Das Exterieur

Das Exterieur

Über die Autorin

Sandra Burkhardt wurde 1992 in Laupheim geboren. Sie studierte und studiert noch Literarisches Schreiben und Kunstgeschichte in Karlsruhe, Leipzig und Berlin. 2016 war sie Preisträgerin für Lyrik beim 24. Open Mike in Berlin, 2018 erschien ihr Debüt Wer A sagt bei gutleut. Dieser Text ist auch in “FLEXEN. FLÂNEUSEN* SCHREIBEN STÄDTE” erschienen. Herausgegeben von Özlem Özgül Dündar, Ronya Othmann, Mia Göhring und Lea Sauer.

Kurzgeschichte 3. August 2019

Betrachterin sein. Dafür richte ich mein Gesicht zur Scheibe aus und schaue durch sie hindurch. Ich sehe einen Mann, der mir zugewandt an einem großen Schreibtisch sitzt und auf einen Computerbildschirm blickt. Er runzelt die Stirn, klickt mit der Maus und blättert in einem der schweren Ordner, die neben ihm liegen. Ich trete näher heran und kann an den Rändern entlang seines Kinns erkennen, dass er Make-up trägt. Er wirkt müde. Dann entdecke ich das Preisschild, das an seinem Schreibtisch klebt: 649,- € statt 799,- €. Lautlos gleiten die Scheiben auseinander. Der Mann blickt nicht auf, als ich über den glatten Marmorboden um seinen Arbeitsplatz herumgehe. Doch als ich mich langsam von ihm entferne, höre ich ihn leise singen: „Mein Herz ist klar, mein Herz ist rein. Ich spinne und singe so allein. Mein Herz ist klar, mein Herz ist rein. Mein Herz ist rein, mein Herz ist schwer. Die Ruh‘ ist hin, ich find sie nimmer, nimmermehr.“ Der Raum öffnet sich in eine große Halle mit Marmorsäulen und langen, ausgeleuchteten Rolltreppen. Dazwischen reihen sich gläserne Vitrinen voll glänzendem Schmuck aneinander, hinter einer jeden eine Verkäuferin. Sie arrangieren Perlenketten auf samtenen Kissen, stellen teuer aussehende Armbanduhren und blicken die vorbeischlendernden Besucher einladend an. Wer von den Hauptwegen abkommt und sich in den schmalen Gässchen zwischen den Vitrinen und dem Schmuck verliert, wird zur potentiellen Kundin und von ihnen angesprochen. Ich sehe ihre lächelnden Münder gebrochen und gekrümmt durch die Scheiben der Vitrinen, Ohrringe und Armbänder mit eingelassenen Edelsteinen, die Mäntel und Handtaschen der vorbeigehenden Personen, das Ziffernblatt einer Armbanduhr und deren Spiegelung, Lichtpunkte. Ich spüre, dass nichts davon für mich gemacht ist.

Auf der Suche nach den Toiletten nehme ich eine der Rolltreppen ins Untergeschoss. Sie führt an einer Zwischenetage vorbei, durch deren Glasfront ich in Büroräume mit grauem Teppichboden und Yukkapalmen blicken kann, Frauen und Männer arbeiten und trinken Kaffee. Dann verschwinden sie wieder aus meinem Blickfeld und es folgen schwere Kronleuchter und ein großer Springbrunnen. Die Beleuchtung ist gelb. Auf den giftgrünen Stühlen, die sich um den Brunnen herum gruppieren, sitzen überwiegend Seniorinnen und löffeln Eisbecher oder lesen Zeitung. Ich gehe zwischen ihnen hindurch, kaum jemand unterhält sich. An einer offenen Weinbar stehen Männer in Anzügen um einen Stehtisch und essen Lachssnacks. Ein blaues Leuchtschild an der Decke weist den Weg zum Aufzug, ein weiteres zum Notausgang. Eine Beschilderung zu den Toiletten gibt es nicht.

Vor einem Fruchtstand, an dem frisch gepresster Saft angeboten wird, tummeln sich mehrere Personen in Regenjacken, hinter ihnen liegt die große Glaswand einer Bank. Aufkleber weisen darauf hin, dass dieser Bereich videoüberwacht wird und Werbeplakate zeigen lächelnde, erwachsene Personen, die Verträge unterschreiben: Stellen Sie Ihr Depot mit unseren Experten auf den Prüfstand: – Individuelle Finanzplanung – Fundierte Beratung, jetzt auch zu FTFs‘ – Objektive Produktempfehlung. Hinter den Scheiben scheint die Zeit still zu stehen: Ein leerer Raum mit drei Geldautomaten, dahinter eine weitere Glaswand, Lichtreflexe, dann ein Schalter mit freundlichen Bankangestellten, die Regenjackengruppe in meinem Rücken und dazwischen wie ein Schleier mein eigenes Gesicht.

 

Egal wohin ich blicke, es legt sich darüber, am Ende sehe ich immer nur mich selbst, ohne mich in all dem verorten zu können.Ich befinde mich immer irgendwo, denke ich, und mein Bewusstsein von Raum und von mir selbst wird grundlegend von der Tatsache beeinflusst, diesen Körper zu haben und mich mit ihm auf Standorte zu beziehen. Doch auf eine merkwürdige Art und Weise schichten und spiegeln sich hier die verschiedensten Räume in- und übereinander und es gelingt mir nicht, all diese Bilder in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Von welchem Standpunkt sind sie zu betrachten, um nicht nur Lage um Lage sichtbar zu machen? Wo laufen die Aufnahmen der Kamera zusammen? Wo liegt der höchste Punkt? In einem Heißluftballon direkt unter der Kuppel zu schweben und hinabzublicken, die Ebenen und Etagen auseinanderzuziehen wie ein Akkordeon, einzuteilen in Zentrum und Peripherie: Ließe sich von dort aus vorsichtig ein Rahmen umlegen, das Mauerwerk abfahren, auf dass das Gebäude an seinen Kanten wieder auftauche? Ließe sich im Überblick sagen: „Irgendwo dort bin ich: Vor oder hinter Glas?“

Gerade rechtzeitig erkenne ich, dass eine Angestellte mich direkt anblickt. Erschrocken trete ich einen Schritt zurück, gehe weiter. Handtücher, Bettwäsche, Kerzen, alles bauscht sich zu gemütlichen Türmen. Ständer voll von BHs und Höschen. Drei weiße Schaufensterpuppen auf unterschiedlich hohen Podesten in identischer Pose, Kontrapost, schlank und in Spitzenunterwäsche, im Hintergrund zwei weitere, goldfarben, eine von ihnen mit halterlosen Strümpfen. Dazwischen eine Insel der Erholung: zwei graue Samtsessel an einem ausgeschilderten Wlan-Hotspot. Auf einem von ihnen sitzt ein Mann und spielt an seinem Handy. Ich gehe zwischen den Ständern hindurch, zupfe an einzelnen Wäscheteilen. Der Mann steckt sein Handy ein und geht weg. All diese Ware wendet sich an mich und sogar unbeobachtet habe ich das Gefühl, selbst Exponat zu sein, so als stoße sich der Raum an mir oder bringe mich erst hervor. Was ist hier sichtbar, was wird sichtbar gemacht? Wem zeige ich mich öffentlich? Wer sieht mich dabei, wie ich meine Unterwäsche auswähle und wem fällt auf, wenn ich das nicht tue? Und wie kann ich hier Wege gehen, die nicht bereits vorgegeben sind, wie kann ich an all den Blicken vorbeigehen und handeln? Ich schlendere weiter und es gelingt mir kaum einen ehrlichen Blick auf die Ware zu werfen. Lieblicher Gesang dringt von den Lautsprechern zu mir hindurch und klingt plötzlich vertraut: „Die Ruh‘ ist hin, mein Herz ist schwer. Wonach nur schau‘ ich aus dem Fenster hinaus? Wonach nur geh‘ ich aus dem Haus?“


Ich verlasse die Wäscheabteilung und frage eine Kassiererin, wo sich die Toiletten befänden. Sie greift unter den Tresen und händigt mir einen kleinen Schlüssel aus. Ich könne die Toilette neben den Umkleideräumen benutzen. Als ich zwischen den Kleiderständern hindurchgehe und nach der Umkleide Ausschau halte, habe ich das Gefühl, mich dabei unauffällig verhalten zu müssen.

 

Die Tür wirkt unscheinbar und trägt die Aufschrift Mitarbeiter. Als sie hinter mir ins Schloss fällt, befinde ich mich in einem schmalen, gefliesten Gang, an dessen Wänden Regale mit Duschvorhängen, Badvorlegern und Klobrillen stehen. Während ich sie langsam entlangschreite und die unterschiedlichen Entwürfe mit Wellenornamenten, Delfinen und Seesternen betrachte, wird die Luft um mich herum langsam feucht und heißer. Ich gelange zu einer Reihe von Waschbecken mit unterschiedlichen Wasserhähnen und Seifenspendern, die Spiegel sind beschlagen. Links und rechts der Waschbecken geht der Gang in eine weite Halle über, in der dicht an dicht Duschen mitten im Raum und an niedrigen Plastikwänden stehen. Sie tragen Aufkleber mit Einfach zuverlässig und Infoposter zu unterschiedlichen Duschrückwänden und Abdichtungen. Brausendes Wasser ist zu hören und heißer Dampf steigt auf, zwei sich unterhaltende Frauen in Bademänteln laufen an mir vorbei und lächeln mir zu. Waren das Kundinnen? Ehe ich sie nach den Toiletten fragen kann sind sie schon verschwunden. Ich kann mich kaum orientieren, gehe weiter, von irgendwoher ertönt ein Föhn. Kurze Zeit später treffe ich eine Frau, die um ihre Hüfte eine Tasche mit mehreren Kämmen und Scheren trägt und gerade einen Haufen brauner Haare zur Seite wischt. Sie gibt mir den Besen mit und weist mich weiter zwischen den Duschen hindurch. Die letzte befindet sich gegenüber einer offenen Küche mit grauen Armaturen und Kochinseln, die sich wiederum an eine überwiegend in rot gehaltene Küche anschließt usw. Ich stelle den Besen ab. Kann ich mir ein Glas Wasser nehmen oder kostet das was? An den Griffen, Wasserhähnen und Dunstabzugshauben hängen kleine Preisschilder und auf den Arbeitsflächen liegen schmale Mappen mit Details zu den Bauteilen aus. Ich blättere in ihnen wie in Gemäldekatalogen: La Toilette (Die Duschende), La Buveuse assoupie (Die Trinkerin), oder Die Kochende, Die Shoppende. Hier kommt alles zusammen, denke ich. Nichts, was man braucht, liegt außerhalb und alles steht zur Verfügung. Jedes Objekt ist ein Angebot an mich und ich bin die Erfüllung seiner Funktion, ausgeführt zu werden. So wird es mich umwerten zu einer, die bezeichnet werden kann, einen Preis hat.

Ich blicke auf. Aus einer der Küchen ist Gelächter zu hören. Fünf Männer und Frauen, teilweise noch mit nassem Haar, stehen zusammen und unterhalten sich, trinken Rotwein, während sie Gemüse schneiden und in einem großen Kochtopf rühren. Ein Pappaufsteller neben ihnen zeigt zwei Paare und ein Kind in angenehm warmem Licht beim gemeinsamen Essen. Sie lächeln, einer von ihnen hält sein Smartphone in die Kamera: Das smarte LED Lichtsystem. Ich frage sie nach den Toiletten und sie sagen, ich solle den Aufzug hinter der übernächsten Küche nehmen und damit „ins 4. OG“ fahren. Zum Abschied prosten sie mir zu.

 

Allein im Aufzug betrachte ich mich im Spiegel. Ich sehe meinen Körper, stehe ihm gegenüber. Dort ist er. Beim Gehen besetzt er den Raum zwischen den Interieurs und die Dinge gehen plötzlich Verbindungen ein. Nur wo ist es geblieben, das sogenannte Exterieur? Worin sind die Interieurs eingelassen und wann haben sie begonnen, so fließend ineinander überzugehen, dass zwischen privat und privatisiert kaum noch zu unterscheiden ist? Welche Rolle spielt mein Körper in ihnen? All die Abschnitte und Etagen, die ich durchschritten habe. Auch von oben ist das Unten nicht zu sehen. Dient mein Gehen noch meinem Transport oder werden durch mich nur Verbindungen performt?

 

Der Aufzug hält in einem Elektrofachgeschäft, einem großen Raum, der mit dem gleichen grauen Teppichboden ausgelegt ist wie auch die Büros. Aufgrund der dunkelblau gestrichenen Wände wirkt er jedoch enger, erdrückender. An der Decke führen Lüftungsrohre und lange Leuchtstoffröhren entlang. Ein Werbeplakat zeigt die von einem prallen Portemonnaie ausgebeulte Gesäßtasche einer Jeans, darüber der gelbe Schriftzug Schluss mit dicker Hose. Die Kundenkarte auch in der App. Ich gehe den Gang mit den SD-Karten entlang und beobachte über die Regale hinweg wie einer der Mitarbeiter einen älteren Herrn beim Kauf eines Druckers berät. Es folgen die Adapter und AV-Kabel. Auf den Verpackungen ist ein Footballspieler, der aus einem Fernsehbildschirm springt, zu sehen. Drei Gänge weiter zeigen Flatscreens in unterschiedlichen Größen Nachrichten, Motocross und Landschaftsaufnahmen. Ein Teenager sitzt vor einem Bildschirm in einem nachgebauten Rallyauto und fährt ein Rennen, daneben wird gerade ein Zahnarztstuhl in die richtige Position gebracht. Der Patient sperrt seinen Mund auf, einer der Mitarbeiter stellt den Speichelsauger an und hängt ihn in seinen Mundwinkel. Wie gern würde ich das hier fotografieren. Ich gehe das Regal mit den Kompaktkameras entlang, die Preisunterschiede sind enorm. Ganz allein besinge ich den Window Shopper: „Mein Herz ist klar, mein Herz ist rein. Alle Neider schaun nach mir, du schaust nach dem Schmuck, den du dir nicht leisten kannst, der Ladenbesitzer schaut nach dir, damit du nichts klaust.“


„Entschuldigung, suchen Sie etwas bestimmtes?“
Der Mitarbeiter vor mir wirkt kompetent und sieht mich direkt an. Ich schaue nur, will ich sagen, und es ist klar, dass mein Interesse dabei der Ware, nicht aber dem Ort gelten sollte. „Die Toiletten“, sage ich stattdessen und er weist auf eine Metalltür am Ende des Raums. Während ich auf sie zugehe, frage ich mich, wie oft wohl genau dieser Weg – der Weg zur Tür, der Weg zur Umkleidekabine, der Weg zur Kasse – bereits gegangen wurde. In jedem Raum gibt es ganz bestimmte Regeln für jeden Körper, ohne dass diese explizit zur Sprache kämen, denke ich. Den Körper sprechen lassen, ihn dem Raum entgegenstellen. Öffentlichkeit herstellen, wie geht das? Wo treffen der Inhalt des Sehens und das Auge aufeinander und wo trennen sie sich wieder?

Als ich die Metalltür hinter mir schließe, befinde ich mich in einem eleganten Treppenhaus mit glänzendem Steinboden und schmalen, goldenen Blumentöpfen, in denen riesige Pflanzenarrangements stecken. Eine Gruppe von vier Männern tritt aus einer der Türen zu meiner Linken. Bevor sie hinter ihnen ins Schloss fällt, kann ich gerade noch einen Blick in das Großraumbüro werfen, in dem in diesem Moment das Licht erlischt. Einer der Männer macht einen Scherz über ihren Chef, dann wünschen sie sich einen schönen Feierabend und verschwinden in unterschiedliche Richtungen. Ich blicke mich um. Eine gläserne Tafel zeigt mit entsprechenden Logos an, was sich in den unterschiedlichen Etagen befindet: Architekturbüros, Physiotherapiepraxen und Versicherungen. Mein Blick gleitet von der Beschriftung auf das Spiegelbild einer der Pflanzen, dann auf mein Gesicht. Ich betrachte es lange. Dort ist sie, ich kann sie sehen, denke ich. Sie denkt darüber nach, wer sie sieht und wen sie nicht sieht, wenn sich wieder etwas über ihr Gesicht und in ihr Blickfeld schiebt, in sie hinein. Sie fragt sich, wer hier spricht. Wer sagt, dass sie spricht, wenn sie „ich“ sagt. Wer immer wieder auf sie verweist, wenn sie selbst ihre Umwelt beschreibt. Und da bekommt sie plötzlich ihr eigenes Ausmaß nicht mehr zu fassen: Mal ist sie klein, mal groß. Mal innen, mal außen. Man könnte sie aufheben, man würde sie wegwerfen. Sie ist an einem Ort platziert und in einen Ort verwandelt worden. Sie ist selbstreferenziell. Und sie singt: „Mein Herz ist klar, mein Herz ist rein. Ich spinne und singe so allein. Wonach nur schau ich ins Fenster hinein? Wohin nur kehr ich wieder heim?“